Leseprobe »Ich hab’ auf dich gewartet, Bruder« (Werdegang)

Von zwei Stationen einer Reise

aus Werdegang / Kapitel 1: Der Wanderer zwischen den Welten – Gregor

Es war ein sonniger Tag, kurz zuvor hatte es geregnet … papperlapapp, das wird hier kein Abenteuerroman! Eine Gruppe aus meiner Schule war bei unserem Religionslehrer zu Hause eingeladen. Und der hatte Bücherregale – ein Traum! Ich saß merkwürdigerweise ganz in der Nähe eines hochinteressanten Regals. Und dort fiel mein Blick auf ein Buch mit dem schönen Titel »Hara: Die Erdmitte des Menschen« von Karlfried Graf Dürckheim. Musste ich haben. Keine Ahnung, warum.

So begann der Weg zu den »Weisheiten« des Ostens, genauer: zum Zen. Und das zu Anfang der 70er Jahre, als Zen fast so exotisch war wie ein Schneemann im Hochofen. Die Regale in den Buchhandlungen und Büchereien waren zum Thema »Spiritualität« ausgesprochen überschaubar. […]

Also versuchte ich zu begreifen, was Meister Hakuin meinte, wenn er eine Hand hob und seine Schüler nach dem Geräusch des Klatschens dieser einzelnen Hand fragte. Oder wieso ein Zen-Meister auf die Frage, wie man denn Erleuchtung erlange, antwortete: »Holz hacken und Wasser holen!« Und was soll ich nach der Erleuchtung tun? »Holz hacken und Wasser holen!«

Dann war da Jōshū, der, gefragt nach dem Grundprinzip des Buddhismus sagte: »Der Zypressenbaum im Hof.« Nicht zu vergessen der kürzlich verstorbene Herbert Feuerstein als Chefredakteur der Kult-Zeitschrift MAD, der in einer Persiflage auf die damalige Fernsehserie »Kung Fu« den kleinen Kwai Chang Caine seinen Meister nach Erleuchtung fragen ließ. Und die klare Antwort erhielt: »Der Mond ist rot, wenn der Adler mit gebrochenen Flügeln fliegt.« Da gibt es in der Tat nur eine Reaktion: »Danke Meister!«

[…]

Wie schon gesagt, machte meine »Zen-Schiene« ebenfalls einen erstaunlichen Schwenk zurück zu den Figuren aus der Vergangenheit. […]

Das waren sie also wieder, die Begriffe und Symbole aus der Kindheit, Jugend und ständig präsenten Gegenwart – mit den Assoziationen und Bedeutungen aus der Vergangenheit. Und ich hatte gedacht, diese »Welt« hätte sich endgültig erledigt. Wie kurzsichtig!

Wenigstens bekam ich nicht mehr sofort Pickel und damit verbundene Schnappatmung, sobald von inneren Diktaten oder Durchgaben die Rede war. Sogar dann nicht, wenn diese Jesus in die Schuhe geschoben wurden. Dabei wunderte es mich durchaus, dass in den Diktaten von Jesus ausgesprochen unterschiedliche, um nicht zu sagen, unvereinbare Aussagen rüberkamen. Und warum redete er nur zu diesen No-Names, statt zum Chef-Redakteur von Radio Vatikan?

So kam es, wie es kommen musste: In irgendeinem einschlägigen Blatt las ich eine kurze Notiz, dass Helen Schucman, Professorin für klinische Psychologie an der medizinischen Fakultät der Columbia University in New York, das Werk »A Course in Miracles« als inneres Diktat (von Jesus, von wem sonst?) niedergeschrieben habe und die deutsche Übersetzung dieses Werks nach rund zehn Jahren kurz vor dem Abschluss stünde.

Nein, nicht schon wieder! Und die Dame ist doch an der Quelle, warum konsultiert sie nicht einen Kollegen, wenn sie innere Stimmen hört? Später erfuhr ich, dass sie genau das tat. Als die »Stimme« sie hartnäckig aufforderte: »This is a Course in Miracles, please take notes (Dies ist ein Kurs in Wundern, bitte schreib’ mit)«, meinte ihr Vorgesetzter ausgesprochen pragmatisch: »Dann tu es doch einfach!«

Nicht lange nach der erwähnten Notiz stand an anderer Stelle eine kurze Anzeige: »›Ein Kurs in Wundern‹ auf Deutsch ist da!« Also begab ich mich auf dem schnellsten Wege nach Münster in die Buchhandlung meines Vertrauens. Dort steuerte ich die mir bestens bekannte Regalwand an, wo das Buch stehen musste. Ich fand einen dicken blauen Schmöker in Plastikfolie eingeschweißt, begab mich damit umgehend zur Kasse, legte fast sechzig DM auf den Tisch des Hauses (für ein normales Buch! Na ja, mehr als 1.200 Seiten), fuhr mit meiner Beute direkt gen Heimat und startete sofort mit dem Lesen.

Das war 1995. Ich befasse mich immer noch mit diesem Werk.

***

aus Werdegang / Kapitel 2: Vom Werden einer Gegenwart aus der Vergebung ihrer Vergangenheit - Michael

Wo in den Krankenhäusern wenigstens die Idee noch aufrechtzuerhalten ist, dass die meisten der Erkrankten mündig sind, ihre Rechte einfordern und ihre Bedürfnisse äußern können, ist Selbstbestimmtheit und die Würde des Menschen im Seniorenheim bereits ein Bereich, der eine hohe und außergewöhnliche Bereitschaft des Personals erfordert, aktiv für die ihnen Anvertrauten auf deren Grundrechte zu achten und für sie einzutreten.

Viele der Heimbewohner sind körperlich gebrechlich oder gelten als dement und werden damit in vielfacher Weise abhängig von ihrer sozialen Umgebung. Wenn die Frau, die mittags das Essen in die Zimmer bringt, nicht von der Verpflichtung einer besonderen Achtsamkeit dem Bewohner gegenüber durchdrungen ist, hat sie im schlimmsten Fall die Macht, durch eine flapsig hingeworfene Bemerkung, eine respektlose Geste oder eine ungeduldige Handlung das mühsam aufrechterhaltene Gebäude der Hoffnung auf einen würdevollen Zusammenhalt des Lebens komplett zum Einsturz zu bringen. Da alte Menschen keineswegs nur Engel sind, überfordert diese Aufgabe oft die Kräfte, und Kompromisse müssen genügen, die der Realität Rechnung tragen.

Eigentlich – und eigentlich kann man das Wort »eigentlich« auch weglassen – kommt man in diesem Bereich ohne spirituelle Perspektive nicht mehr aus. Das schwerwiegendste Tabu, welches das frei athmende Selbst, das wir zuinnerst sind, gefangenhält, ist das Thema »Tod«. Ohne die geistige Führung einer Sicht, die den Tod nicht sieht, werden alle Bemühungen um die Situation älterer und abhängiger Menschen zu Abkömmlingen des eigenen Kompromisses, der mit dem düsteren Schlussakkord unseres Lebens einen Deal eingeht: Wir dürfen ihn nach Kräften hinauszögern, aber wenn diese Kräfte erschöpft sind, muss sein Sieg über uns akzeptiert werden. In einer Annäherung der Phantasie an das ewige Leben gestehen wir uns allenfalls »Wiedergeburten« zu oder einen »Himmel«, der »nach dem Tod« zu betreten ist. Dass der düstere Gevatter eine Realität »ist«, bleibt dabei als fundamentaler Glaubenssatz im Geist akzeptiert: Der Tod ist das Einzige im Leben, das absolut verlässlich zu jedem kommen wird, die eine unverrückbare »Wahrheit«, das »absolut Gültige« unseres »Lebens«, das sich nur im Kontrast zu seinem Gegenteil erfahren zu können glaubt.

In der Wahrheit selbst ist der Tod nur ein Glaube, die Idee der Vernichtbarkeit, der Sterblichkeit des Geistes, der Getrenntheit von der ewigen Liebe, ein blasser, erschrockener Gedanke, der uns dazu verleitet hat, diesen furchtsamen Deal mit einem Traumgespinst einzugehen.

Hier begegnet mir Herr Q., fordert meine Solidarität in unserem gemeinsamen fundamentalen Irrtum über das Leben und reicht mir gleichzeitig die Hand der Erinnerung daran, was durch allen Irrtum hindurch ewig wahr bleibt: Die Liebe kennt keine Dunkelheit. Es ist nur ein kleiner, korrigierbarer Fehler in unserem Denken, zu glauben, dies bedeute, Sie kenne uns nicht. In Ihr sind wir als das Eine Leben erkannt.