Leseprobe »Und wohin mit dem Schmerz, Bruder?« (Teil I)

Wo ist der Hebel, mit dem Schmerz umzugehen?

aus: Teil I / Kapitel 1: Die Seele des Leidens

[…]
Zu Anfang möchte ich mit dir gemeinsam einen ganz konkreten Blick auf den Schmerz werfen. Und damit meine ich ganz »gewöhnlichen« körperlichen Schmerz. Es gibt sogar eine »Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes« (IASP – International Association for the Study of Pain). […]

Eine unangenehme Sinnes- und Gefühlserfahrung, verbunden mit tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigungen oder wie eine solche Schädigung beschrieben. (Siehe IASP ↗, Übersetzung durch Verfasser)

[…] was können wir aus diesen theoretischen Erläuterungen für einen praktischen Ansatz mitnehmen oder folgern? (Siehe IASP):

    • Subjektiv empfundener Schmerz ist ein auf Grund der Lebenserfahrung erlerntes Konzept.
    • Schmerz lässt sich nicht allein aus der Aktivität der sensorischen Neuronen ableiten.

Das könnte jetzt zu einer völligen Fehleinschätzung führen: Schmerz ist zum großen Teil eingebildet (»erlerntes Konzept«), also stell dich nicht so an! Darum komme ich hier zur wichtigsten Aussage der besagten Schmerzdefinition:

    • Es sollte respektiert werden, wenn eine Person eine Erfahrung als Schmerz bezeichnet!

[…] Neben den »Untertiteln« gehört in jedem Fall eine Portion »Widerstand« zum [»Gesamtpaket Schmerz«]. Und was meine ich mit »Untertiteln«? Kurz gesagt: Geschichten. Bilder, Befürchtungen, Bedenken, Zukunftsängste, Deutungen, Meinungen und jeweils damit zusammenhängende Emotionen, die zusammen mit der »Physik« das von dir erfahrene »Schmerzpaket« bilden.
[…]
Es lässt sich nicht auseinanderpflücken und auf der Basis seiner Bestandteile analysieren. Es kommt immer als Ganzes im Bewusstsein an. Daher ist es auch nicht möglich, festzustellen, wie groß die einzelnen Bestandteile sind.

[…] Das Leiden als übergeordnete Komponente in den Fokus zu nehmen, scheint ein vielversprechender Ansatz zu sein, um den Schmerz »beherrschbarer« zu machen. »Leiden« ist eine Wahl! Eine Wahl beruht in der Regel auf Deutungen. Die Erfahrung zeigt, dass der physische Schmerz sich verändert, wenn das »Leidenspäckchen« verändert wird. […]

Der Widerstand ist eine Emotion im Verbund der Emotionen des »Leidenspäckchens«, er bekommt nur durch die eigenständige Namensgebung eine herausragende Stellung. Wird der Widerstand als erstes »behandelt«, sind die Auswirkungen auf das subjektive Schmerzempfinden am stärksten. Denn man kann den Widerstand durchaus als »Seele des Leidens« bezeichnen. Zumindest gilt dies für die meisten Menschen.
[…]
Du erzeugst das (subjektive) Leiden! Womit? Durch den Widerstand gegen das, was ist, die »Realität«, die du als solche empfindest bzw. wahrnimmst – ungeachtet der Frage, ob das wirklich die Realität ist. Für dich ist sie das.
[…]
Widerstehst du dem Reflex, die Aussage so zu interpretieren, dass du selbst Schuld an deinem Leiden hast, blickst du plötzlich auf eine Möglichkeit: »Kann es tatsächlich sein, dass ich es in der Hand habe, ob ich leide? Was habe ich zu verlieren, wenn ich das als Ausgangspunkt nehme?«

Probieren wir es einfach einmal aus, statt noch länger zu theoretisieren:

Lass den Widerstand gehen

[…] Wo im Körper spürst du den Widerstand gegen diesen Schmerz? Vielleicht sind noch mehr Emotionen mit dem Schmerzempfinden verbunden. Konzentriere dich jedoch nur auf den Widerstand.
[…]
Werde dir darüber klar, dass du diesen Widerstand nicht mehr brauchst und die Absicht hast, dem Schmerz ohne diesen Widerstand zu begegnen, da der Widerstand die »Seele des Leidens« ist. Und dann sage respektvoll und mit Mitgefühl zu diesem wahrgenommenen Empfinden des Widerstands:

»Ich brauche dich nicht mehr, du kannst jetzt gehen.«

***

Wer bist du? Erkenne dich durch den Schmerz als Mittel

aus: Teil I / Kapitel 2: Schmerzmittel

[…]
Es geht mir nicht darum, dir »alternative Behandlungen gegen Schmerzen« anzubieten […] Bei der Alternative, die ich dir anbiete, handelt es sich zunächst einmal »nur« um eine Sichtweise. […]»Schmerzmittel« sind in meiner Sichtweise keine Mittel gegen den Schmerz. Ich bringe mit dieser Kapitelüberschrift vielmehr zum Ausdruck, dass der Schmerz zum Mittel wird und nicht zum Zweck.
[…]
Darum bitte ich dich jetzt, dich einmal auf dein Schmerzempfinden einzulassen.[…] Mit »Einlassen auf das Schmerzempfinden« meine ich: Nimm den Schmerz wahr, so wie er sich zeigt. Da ist mit Sicherheit (noch) Widerstand vorhanden, mal mehr und mal weniger, ungeachtet der Vorbemerkungen und des Vorgehens aus dem ersten Kapitel. Sollte der Widerstand zu groß sein, aus welchen Gründen auch immer: Zwinge dich zu nichts![…]
[…]
Erlaube dir, den Schmerz zu empfinden, ohne den Wunsch, ihn loszuwerden.
[…]
Stelle die »Perfektion« deines Schmerzes fest, diese filigranen Facetten des Empfindens, die »Faszination« angesichts der »Schmerzstruktur«. Sei dir des Schmerzes ungefiltert und direkt gewahr, wie ein Ereignis, auf das du schon lange gewartet hast.

An dieser Stelle halten wir besser inne. Bist du noch bei mir oder bist du bereits »ausgestiegen«? War das zu verrückt, die »Perfektion« oder die »Faszination« ausgerechnet im Schmerz entdecken zu wollen? […] Mit Schmerzen zu leben ist kein Ponyhof. Die Einschränkungen der Lebensqualität nehme ich nicht auf die leichte Schulter. Aber ich weiß auch: Man kann Schmerz anders sehen. Man kann, aber dass soll auf keinen Fall »Erfolgsdruck« oder falsche Hoffnungen hervorrufen.
[…]

*

Womit identifizierst du dich?[…] Es geht mir an dieser Stelle nicht um intellektuelle Erklärungen zu dieser Frage, sondern um eine Art von Gespür oder Erfahrung deiner Identifikation.

Daher möchte ich dich bitten, kurz die Augen zu schließen.[…] Was du mit Sicherheit sagen kannst: »Ich bin da!« Das ist völlig unabhängig davon, was dieses »Ich« sein mag – solange du nicht versuchst, es zu definieren. […] »Ich bin präsent« ist eine andere Möglichkeit, das »Da-Sein« auszudrücken. Da aber jedes beschreibende oder zusätzliche Wort letztlich die Tatsache der reinen Präsenz nicht »trifft«, ist die kurze Form »Ich bin« in einschlägigen Kreisen am weitesten verbreitet.

Woher weißt du von »Ich bin«? Ist das eine Erfahrung, also eine Wahrnehmung? […] »Ich bin« ist nichts »Wahrgenommenes«, also nichts, was gesehen, gehört, gerochen oder geschmeckt werden kann, es ist kein Gedanke, kein Gefühl und keine körperliche Empfindung. Du hast dieses »Ich bin« auch nicht erraten, erfunden oder dir vorgestellt. Du weißt es. Unmittelbar. Und hast es vergessen.
[…]
»Ich bin« kann nicht leiden. Außer, du beziehst dich auf die Vergangenheit.
[…]
Da auch der längste Weg nun einmal mit dem ersten Schritt beginnt und dies gleichfalls für Wege ohne Entfernung gültig ist, möchte ich kurz auf eine bekannte Metapher eingehen, die wir im Rahmenkonzept nur namentlich erwähnt haben: die Metapher von der Welle und dem Meer. Das soll das »Ich bin« auch von der gedanklichen Seite her ein wenig beleuchten.
[…]
Das Bild von der »Welle und dem Meer« ist dir vermutlich bekannt, wenn du dich ein wenig mit Spiritualität befasst. Die Wellen an der Oberfläche des Meeres stehen für »die Welt«, wie du sie wahrnimmst. Oder genauer: Jede Welle steht für ein »Selbstkonzept«, eine »Identifikation« mit einer Persönlichkeit.[…]
[…]
Das »Ich bin« der Welle bezieht sich also nicht auf die Wellenform, denn dann wäre das Wissen über Begrenzung. […]Was in unserer Metapher ist das Bild für Unbegrenztheit? Richtig, das Meer.

Äh, nein, nicht ganz. Ich werde das Bild nun doch ein wenig überstrapazieren.[…]
[…]
Atmen wir an dieser Stelle erst einmal ein wenig durch. Schließlich haben wir versucht, mit Hilfe einer naturgemäß begrenzten Metapher, also einer mehr oder weniger nützlichen und anschaulichen Vorstellung, »Grenzenlosigkeit« und »Ich bin« zu veranschaulichen.[…] Aber – »Ich bin« ist losgelöst von Symbolen erfahrbar, wenn der Verstand es nicht zum »Ding« macht. Dabei können Metaphern als Hilfsmittel dienen.
[…]
Also kommen wir nach dieser Achterbahnfahrt zwischen unserer grenzenlosen Wirklichkeit und der Begrenztheit unseres Denkens zurück zur Praxis, die erlernte Welt als Mittel, nicht als Zweck zu verwenden – aber gehen wir nun etwas sanfter vor.
[…]
Probieren wir es einfach noch einmal aus. Aber diesmal greifen wir dazu nicht tief in den vermeintlichen »Sumpf« des Schmerzes […] Vorhin hatten wir uns ja bereits weit vorgewagt in dem Versuch, uns dem »Schmerz« ohne Bewertung zuzuwenden, ihn einfach da sein zu lassen wie etwas, das wir uns gerne anschauen. Jetzt geht es darum, die »Wolken« deiner Wahrnehmung als »Ausdruck der Liebe« anzusehen. Und da nehmen wir besser erst einmal eine »schmerzfreie« Wolke, einverstanden?
[…]
Die Vorgehensweise, die ich hier verwende, ist angelehnt an eine Vorgehensweise mit dem schönen Namen »Actualism« – beschrieben auf einer etwas »herausfordernden« Webseite von zwei Australiern. […]Die Methode ist (mit meinen eigenen Worten beschrieben): »Bemerke in diesem aktuellen Moment die PERFEKTION und SCHÖNHEIT in dem, was du wahrnimmst – in dem, was du siehst, hörst, riechst, schmeckst, denkst, fühlst oder körperlich empfindest.«

Wie erlebe ich diesen Moment des Lebendigseins?
[…]
Nicht die Welt »an sich« ist unser Ziel, denn »dort« gibt es keine Perfektion oder Schönheit. Ich drücke es daher mal ganz präzise aus: Die Inhalte des Gewahrseins sind unsere (Hilfs-)Mittel. Also alles das, was du siehst, hörst, schmeckst, riechst, … Oder das, was du körperlich empfindest, was du denkst oder was du fühlst.

Denn das sind die Projektionen des Geistes, des »Ich bin«, auf sich selbst als Leinwand. »Ich bin« ist zeitlos, weder unendlich noch ewig, eine perfekte Ausdehnung der einen WIRKLICHKEIT.

Also kannst du die Widerspiegelung dieser PERFEKTIONEN auch in seinen Projektionen wahrnehmen. Falls du dich nicht anders entscheidest.
[…]
Jetzt aber Hand aufs Herz: Das funktioniert auch mit dem Schmerz? In der Tat, es gibt nichts, womit es nicht »funktioniert« – was immer da funktionieren soll. Auch der Schmerz kann zum Gegenstand einer solchen Betrachtung und eines solchen Erlebens werden. Darum habe ich dir diese Betrachtungsweise vorgestellt! Aber es wird Übung brauchen, die »Perfektion« im Schmerz zu sehen. Schließe den Schmerz nicht aus dieser ungewöhnlichen Perspektive aus! Und bekämpfe dich vor allem nicht selbst, mache es nicht zum »Erfahrungszwang«.

***

Ankommen

aus: Teil I / Kapitel 3: Was ist mit dem Schmerz des Bruders?

[…]
Auf dem dargestellten Weg der neugierigen Aufgeschlossenheit und Freude kannst du eine Vielzahl an überraschenden Erfahrungen machen. Alles, sogar der Schmerz, kann als Mittel für ein tiefgreifendes Erleben von Weite und Freiheit des reinen Gewahrseins dienen – wenn du »die Dinge« nicht als Ziel verwendest.[…]
[…]
Wenn du also den »Auslöser« der empfundenen Schönheit nicht in den »Dingen« suchst, können auch tiefe Gefühle von Glückseligkeit und Liebe auftreten, bis hin zu einem dauerhaften »Zustand« grundsätzlichen Wohlbefindens, losgelöst von mehr oder weniger flüchtigen Emotionen und Affekten. Da liegt es nahe, dies alles als »Ankommen« anzusehen: Nenne es Erwachen, Erleuchtung, Gipfelerlebnis, wahre Wahrnehmung, Vereinigung mit Gott, Selbstverwirklichung, grundsätzliches Wohlbefinden oder actualism (s. Kapitel 2) – ganz nach deinem weltanschaulichen, religiösen oder spirituellen Kontext.

Das »Ankommen« hat jedoch nichts mit diesen wunderbaren Erfahrungen zu tun. Oder, präziser ausgedrückt, »Ankommen« ist nicht gleichzusetzen mit besonderen Erfahrungen! Diese Aussage möchte ich betonen, denn »die Reise ohne Entfernung« führt zu diesen und weiteren Erfahrungen, aber »Ankommen« ist kein spezieller, veränderter Bewusstseinszustand. »Ich bin« ist nicht Glückseligkeit, Liebe, Freiheit, Geborgenheit, Stille oder … sondern spiegelt sich lediglich in diesen Formen im Bewusstsein wider. […] Bleibe also nicht auf halbem Wege im »Glückseligkeitsgefängnis« stehen, sondern mach dich auf zum nächsten Schritt.

Diesen nächsten Schritt verbinde ich mit unserem Buchthema »Schmerz«, indem ich es nur ein ganz klein wenig variiere: »Wohin mit dem Schmerz des Bruders?«
[…]
Damit wird der »Bruder« für uns zum Symbol für jedes Lebewesen – mit den Augen der Welt betrachtet.[…]
[…]
Du kannst relativ einfach die Welt als Ausdruck tätiger Liebe, Schönheit und Perfektion wahrnehmen sowie den stillen und friedlichen »Ort« im unberührbaren Zentrum des vermeintlichen Sturms der Welt finden. Aber wo ist dein Bruder?[…]

[…] Der Weg nach »innen« mit der Erfahrung des »Ich bin« ist gut geeignet, um deinen Schmerz in einem anderen Licht zu sehen und die zugrundeliegende Identifikation aufzuweichen oder gar aufzuheben.[…]
[…]
Das Meer kennt keinen Schmerz, keine Körper, keine Gegensätze, keine Anfänge und Enden, keine Zeit und keinen Graben zwischen dir und deinen Brüdern. Es liegt jenseits deines »Ankommens«, jenseits aller Gedanken, Gefühle und Empfindungen, jenseits der Erfahrung des »Ich bin«. Verlassen wir damit die Metapher und wenden uns dieser geheimnisvollen allumfassenden Präsenz von tiefer Weisheit und Klarheit zu, für die das Meer symbolisch steht, die keinen Namen hat und sich der Wahrnehmung entzieht.

Wie gehe ich mit den Schmerzen meines Bruders um?

Lerne, von dem stillen und friedlichen »Ort« im unberührbaren Zentrum des vermeintlichen Sturms der Welt aus, in der Welt aktiv zu sein. Dann ist deine fragende Haltung: Was ist die hilfreichste Antwort, die ich in diesem Moment meinem Bruder geben sollte? Was ist die Antwort, die meinen Bruder und mich von den allgegenwärtigen Mustern befreit, die vom Schmerz bestimmt werden? Was ist das Beste in dieser Situation für alle Beteiligten?
[…]
Das »Ankommen« ist nicht deine Angelegenheit. Also lasse dich lehren, wie du handelst, ohne zu handeln, also ohne dich einzumischen. Und ohne dich zurückzulehnen, um auf irgendwelche »höheren Eingaben« zu warten.

Und dein Schmerz? Kann es sein, dass er dir in dieser Geisteshaltung verloren gegangen ist?

© 2020 Gregor Geißmann • Michael Feuser. Alle Rechte vorbehalten.