Leseprobe »Ich hab’ auf dich gewartet, Bruder« (Teil II)

aus Teil II / Kapitel 1: Kommunikation

Aller Beziehungsstress ist Kommunikationsstörung. Wenn wir uns »nicht mehr verstehen«, wird’s eng. Ein Heer von Psychologen lebt davon, uns zu erklären, wo die Störungen herkommen, wie man sie beheben kann und immer wieder neu: was Kommunikation überhaupt sei. Man musste uns sogar sagen, dass wir auf verschiedenen Ebenen miteinander sprechen – falls wir noch miteinander sprechen! In einem Satz sollen wir angeblich gleichzeitig Information, Selbstdarstellung, Einschätzung des anderen und unser an ihn gerichtetes Ansinnen, was er jetzt gleich tun soll (gemeint ist das Kommunikationsmodell des Friedemann Schulz von Thun) als Wortschwall abliefern: »Der Müll muss runter!«

Also gut, es ist was dran! …

Das erhellt jedenfalls die als Tatsache missverstandene Halbwahrheit, dass Kommunikation komplex und schwierig sei und eine Verständigung, die ihren Namen verdient hätte, letztlich als unmöglich angesehen werden müsse. Die Beziehung zwischen Frau und Mann ist ein gern herangezogenes Beispiel, um diese Annahme zu untermauern.

Um den Fallgruben gegenseitigen »Verstehens« zu entgehen, haben wir neuerdings die Verflachung der Sprache erfunden. Dazu hat die Digitalisierung der Kommunikation die Steilvorlage geliefert: Wenn die SMS abgeschickt ist und zwei Häkchen hinter der Whatsapp-Nachricht erscheinen, gelten sie als verstanden. Eine Grammatik, die – jedenfalls zu Zeiten, an die ich mich noch schemenhaft erinnere – die ganze Vielfalt der Zwischentöne aufgenommen und transportfähig gemacht hat, ist inzwischen unerwünscht. Und schleichend, aber unerbittlich, sind wir voreinander in virtuelle Räume ausgewichen, aus denen heraus wir zuerst festlegen, ob wir den nächsten digital sinnverkürzten Zwitscherer in eine Gruppe schicken, mit der wir sowieso im Konsens sind über Freund und Feind, oder lieber mal zur Abwechslung mit einem kernigen Statement in einen konfrontativen Kreis reinchatten wollen. Das Risiko, auf einen echten Menschen samt seiner spontanen, unvorhersehbaren und damit unberechenbaren Willensäußerungen zu treffen, ist fast auf null gesunken verglichen mit Zeiten, in denen der Bäcker-Azubi mir die Brötchen noch über den Tresen gereicht hat, ohne gleichzeitig seine Mails zu checken.

Die Kassiererin bei Aldi zieht längst die Waren über einen Scanner, was all die kleinen Gespräche über ihre frappierende Leistung, sogar die Nummer der gestern erst ins Sortiment aufgenommenen Dauerwurst auswendig zu wissen, überflüssig gemacht hat … das Fachsimpeln mit dem Automechaniker über das befremdliche Motorgeräusch entfällt, weil der Experte auf die Frage: »Was hat er denn wohl?« nur achselzuckend sein Diagnosegerät anstöpselt … und an der Fußgängerampel ist mal wieder fast eine Vollbremsung nötig, weil der mit seinem Smartphone flirtende Zebrastreifen-User erst im allerletzten Moment – einen Fuß hat er schon mal auf die Straße gesetzt – zu erkennen gibt, dass er genau wie ich weiß, dass ich Grün habe!

Dass in einem solchen Kommunikationsklima Beziehungen genauso sprachlos und austauschbar werden wie die Emojis, mit denen wir unsere Gefühlswelt mittlerweile zu vermitteln gewohnt sind, liegt auf der Hand. Beziehung ist Kommunikation.

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Was dennoch inmitten all der hilflosen Versuche, unser Miteinander und Gegeneinander verständlich zu machen und dabei unsere Kommunikationsgewohnheiten einer technikhörigen Welt anzupassen, gelassen Sie Selbst bleibt, ist die Wahrheit, und Sie ist unbeirrbar Kommunion. Unsere Verbundenheit in einer Liebe, die alles umfasst, jedem Ding seine eigentliche Bedeutung gibt und eines jeden wahre Identität ist, kann nur vergessen, nicht aber unwahr gemacht werden.

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Über das Wunder

aus Teil II / Kapitel 6: Vom Geben, Teilen und Sich-Wundern

Gäbe es die Wunder der Heilung unserer Trennungs-Sicht und ihrer Folgen nicht, bliebe die Idee des Einsseins ein blasser, nicht tragfähiger Gedanke. Aber es gibt sie ja, diese Tropfen heilsamen Regens, die für einen Moment und für alle Zeit die Wüste einer materialistischen, seelenlosen Welt in das fruchtbare Land unserer Verbundenheit in Liebe verwandeln – oder hast du daran irgend einen Zweifel?

Falls du jetzt »Ja« sagst und vielleicht sogar »Allerdings mit Ausrufezeichen«, dann lade ich dich ein, mit mir in Betracht zu ziehen, dass unsere Zweifel an der Existenz wahrer – also von der Anwesenheit und korrigierenden Macht eines uns gemeinsamen Geeinten Geistes überzeugende – Wunder hierher rühren könnte:

Jeder von uns hat »seine Wunder« erlebt: Zufälle, zu denen man nicht mehr »Zufall« sagen konnte, ohne vor sich selbst unglaubhaft zu werden, Situationen, die gelangen, obwohl sie bereits definitiv gescheitert schienen, Synchronizitäten, die uns staunen ließen, das Empfinden eines »grundlosen« Friedens oder irgend eine andere Form des uns Ahnungslosen unverdient Zufallenden. Wir haben sie vielleicht genossen, bestaunt und einander in einer ersten Begeisterung erzählt, dann aber haben wir sie wieder eingeordnet in das Raster unserer Grundannahmen, das uns zu tragen scheint, in die Logik, die uns der Gedankenanlageberater Egon nicht müde wird als alleingültig zu empfehlen. Unsere Erlebnisse, zu denen wir vielleicht sogar einen Augenblick lang und meist eher halbherzig »Wunder« gesagt haben, sind meist schnell zu Anekdoten verblasst und schließlich ins Vergessen versunken. Oder wir haben versucht, krampfhaft an ihnen festzuhalten und sie in Wiederholungen wiederzufinden und haben sie dadurch als das, was sie sind, geleugnet: unwiederholbare, nicht festzuhaltende Boten der Ewigkeit und des Einsseins in Ihr.

Als tragfähig und heilsam, als Stärke und allen dienende Macht, von der Einheit allen Lebens erzählend und auf unsere wahre Identität deutend erleben wir Wunder erst dann, wenn wir genau an demselben Punkt, an dem wir sie bislang für unmöglich gehalten haben, einen Augenblick stehenbleiben und sie aktiv einladen: Dort, wo mich die »Realität«, so wie ich sie erlebe, mit einem anderen, fremden Willen konfrontiert, gegen den ich mich denke, abgrenzen und verteidigen zu müssen, dort, wo ich ohnmächtig und hilflos werde, weil sich mein eigener Wille nicht mehr durchsetzen lässt. An diesem Ort, an dem sich mir die Notwendigkeit von Abgrenzung, Angriff und Abwehr, von Schuldzuweisung und Opfer scheinbar beweist und mir Angst nur verteilbar, nicht aber heilbar erscheint, an dem tiefsten Ort in meinem Geist, an dem ich bislang jedes erlebte Wunder der »Realität« geopfert habe, kann ich eine bewusste Entscheidung für die Alternative treffen. Diese bewusste Wahl, das Wunder einzuladen, setzt die Einsicht in das stets Unzureichende meines »eigenen Willens« voraus und die Bereitschaft, einen »höheren Willen« zu akzeptieren, der letztlich mein »wahrer Wille« ist. Sie bedeutet zu vergeben, nicht dir, sondern mir und meinem Urteil über dich. Wenn ich jetzt ein Wunder erlebe, bleibt es bei mir als heilendes Erleben und tragende Kraft.

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Über unsere »Demenz«: die Frage danach, wer wir sind und wo unser Zuhause ist

aus Teil II / Kapitel 13: Das Wunder

Die Heimaten, die wir uns ersinnen in Anpassung an unsere jeweils erlebten Realitäten, sind vielfältig, wechselhaft und stets vorläufig. Der eine findet sein Zuhause in der Familie, ein anderer an einem bestimmten Ort, in der Hierarchie des Berufslebens, in besonderen Fähigkeiten seines Körpers oder in geistigen Inhalten. Das alles aber ist »Heimat auf Zeit« und entbehrt eines Elementes, nach dem wir uns wohl alle zutiefst sehnen: der Gewissheit. Wo bin ich wirklich – oder noch deutlicher gefragt: wahrhaft – geborgen, zu welchem Ort kann ich sagen: Hier bin ich von allem erkannt und hier erkenne ich alles? Wer bin ich … eigentlich?

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Wir können die Beantwortung dieser Frage genauso weit hinausschieben, wie die Elastizität unserer Fähigkeit zur ausgrenzenden Interpretation reicht. Eine selbstdefinierte Heimat braucht die Fremde, gegen die sie sich abheben kann, um »vertraut« zu werden.

Für diejenigen aber unter uns, die »demenzkrank« genannt werden, eben weil diese Fähigkeit – vielleicht nur ein wenig – nachgelassen hat, ist eine solche vorläufige Heimat als Spiegel der eigenen Identität keine zufriedenstellende Option mehr.

Kein Wunder ist es also, wenn »Heimat« zur Kernfrage des Demenzkranken wird, die er mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, subtil oder geradeheraus jedem stellt, der ihm begegnet und die er in seinem gesamten Verhalten zum Ausdruck bringt.

»Wo bitte gehöre ich hin, wo bin ich zu Hause? Kannst du mir da weiterhelfen?«

Die Angebote, die ihm begreiflich machen wollen, dass er im Hier und Jetzt – da, wo er gerade lebt – sein Zuhause gefunden hat, fruchten meist wenig: Zu sehr irritiert die Vergesslichkeit, und zu viel Misstrauen den Auskünften anderer gegenüber hat sich aufgebaut. ›Wie soll ich glauben, an einem Ort zu Hause zu sein, an dem jemand, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, behauptet, er kenne mich seit Jahren oder sei sogar mit mir verwandt? Genauso wenig kann ich doch ein Haus meine Heimat nennen, in dem irgendwelche Leute täglich, wahrscheinlich auch nachts, die Möbel gegen andere austauschen, meine besten Hemden klauen und mich zum Zähneputzen zwingen wollen. Sie nennen diesen Ort vielleicht »Seniorenheim«, aber ich habe meine berechtigten Zweifel: Warum zum Beispiel wird hier ständig alles so umgebaut, dass man sich nicht mehr zurechtfindet? Ein »Heim« ist doch wohl etwas ganz anderes! Gerade gestern beispielsweise haben sie die Tür zum Garten einfach zugemauert und mein Zimmer auf eine andere Station verlegt. Natürlich glaubt mir niemand, wenn ich mich beklage. Und diesen Leuten soll ich mein Vertrauen schenken, wenn sie mir sagen wollen, wo ich zu Hause sei? Das Dumme ist nur: Es ist niemand anderer hier, den ich fragen könnte … vielleicht meine Tochter, wenn sie heute Abend kommt …. sie kommt doch heute Abend? … ich habe doch eine Tochter? … wie heißt sie nur? …‹

Vielen Demenzkranken steht die Frage, wohin sie gehören und wer sie sind, den ganzen Tag über stumm flehend ins Gesicht geschrieben – vielleicht fragen sie dich gerade, wie spät es sei oder ob es schon Mittagessen gebe – und ihr Tonfall bezeugt dabei bereits die tausendfach enttäuschte Hoffnung, dass irgendwann einmal die eigentliche Frage beantwortet werden wird. »Es ist zwölf Uhr, Sie können gern schon in den Speisesaal gehen!« Dann hörst du als Antwort auf deine bemühte Auskunft möglicherweise ein artiges »Danke«, welches das Potenzial hat, Herzen zu brechen: ›Nein, du hast es mir wieder nicht sagen können, wo ich hingehöre. Trotzdem danke‹.

Für den demenzkranken Menschen wird die Frage nach seinem Zuhause und seiner Identität unaufschiebbar.