Leseprobe »Ich hab’ auf dich gewartet, Bruder« (Teil I)

Konzept oder kein Konzept?

aus Teil I / Kapitel 1: Konzepte, Vorstellungen und Modelle

Stell dir vor, deine unerschütterlichen Vorstellungen über Leben und Sterben, Geburt und Tod, Anfänge und Enden, Zeit und Ewigkeit, Du und Ich, Krieg und Frieden basierten auf einem klitzekleinen Irrtum.

Stell dir vor, der Rausschmiss aus dem Paradies mit dem darauffolgenden Schlamassel sei nur die grottenschlechte Verfilmung einer ziemlich bekloppten Idee.

Stell dir vor, du befändest dich auf einer Reise ohne Entfernung zu einem Ziel, das du nie verlassen hast.

Stell dir vor, die Wirklichkeit hätte kein Gegenteil und Angst wäre unmöglich.

Stell dir vor, der Urknall sei nie geschehen.

Stell dir vor, Schuld wäre nur eine lächerliche Überzeugung und jedes Lebewesen sei unschuldig. Du eingeschlossen.

Dann wäre es keine ausgefallene Idee, umzudenken oder besser: eine andere Sichtweise anzunehmen.

Hoffentlich bekommst du bis hierher keine Pickel: Vorstellungen?! Kommen jetzt möglicherweise auch noch irgendwelche abstrusen Konzepte?! Also irgendein gedanklicher Rahmen, um Ereignisse, Vorkommnisse und Handlungen einordnen und bewerten zu können? Gedanken, denen man Bedeutung gegeben hat? Abstrakt gesprochen: Irgendeine abgefahrene Basis für den Verstand, um mit den Herausforderungen des Lebens klar zu kommen?

Bei nicht wenigen spirituellen Suchern und einer Vielzahl an professionellen »Findern« führen konzeptionelle Überlegungen im Zusammenhang mit spirituellen Wegen zu Brechreiz, Ausschlag oder endlosen Wortschwallen. Wege? Welche Wege? Da gibt es keine Wege, da ist nur Leere! Der Verstand? Der ist aber auch so was von out, wenn es um Erleuchtung, Erwachen, Nondualität, Gipfelerfahrung, mystische Erfahrung, kosmisches Bewusstsein, Unio mystica, Erlösung, wirkliche Welt, mystische Hochzeit, Schau Christi, Satori, Einheitsbewusstsein, Einsgesinntheit, Gottesbewusstsein, den Frieden, der das Verständnis übersteigt, dauerhafte mystische Erfahrung, Samadhi, Bodhi, Verwirklichung oder [bitte bevorzugten Begriff einsetzen] geht.

Merke: Der Verstand ist tatsächlich nicht am Erwachen beteiligt. Das Gefühl auch nicht. Genauso wenig die Intuition. Alle drei sind jedoch für das Erwachen erforderlich. Lehne sie ganz oder teilweise ab und du schläfst einfach weiter.

***

Fast am Ziel – glaubst du ...

aus Teil I / Kapitel 9: Das Ende der »Macherphasen«

Das Ende der Macherphasen ist gleichzeitig das Ende der »aktiven Phasen«. Aber irgendwie passt der Begriff »Macher« besser, denn der Macher ist davon überzeugt, dass sein Üben eine direkte Bedeutung hat, etwas bewirkt, ihn der Erlösung oder Erleuchtung oder dem Erwachen oder der Glückseligkeit oder dem Ende aller Probleme oder eben dem, was wir U.N.E [Universelle nicht-symbolische Erfahrung (Anm.d.V.)] nennen, näher bringt. Da gibt es in der Tat so etwas wie einen Erfolg, eine ruhige Zeit, die ein unbestimmtes, nicht an Bedingungen geknüpftes Wohlbefinden bringt, das hoffen lässt. Wie einfach und offensichtlich erscheint auf einmal das Ziel, es fühlt sich ganz leicht an, noch ein paar Schritte …

Hier spürst du wahrscheinlich einen Hauch des Friedens, eine Geborgenheit und Fürsorge, eine Art von Sicherheit. Du kommst zu einer gewissen Ruhe. Hier ist der Platz zum Ausruhen, hier sind wir zu Hause angekommen. Hier ist Frieden, wir wissen nun Bescheid und haben dieses Wissen mehr oder weniger erfahren, der Lohn der ganzen Mühe ist zum Greifen nahe. Glauben wir. Vielleicht gab es da ja auch ein paar »Gipfelerlebnisse« auf dem Weg, kürzere oder auch längere Momente der Freude und des Friedens, vielleicht sogar ein paar überwältigende Zeiten der Ruhe und der Stille, eine Geborgenheit inmitten des Tumults, der uns dadurch nicht wirklich beeinträchtigte. Wir sind angekommen. Wir sind am Ziel. Oder mindestens ganz kurz davor. Glauben wir.

Das Verlangen und das Üben ist, vielleicht auch nur noch leicht, immer noch egozentrisch gefärbt: Du möchtest dich erwacht sehen und die Freude für dich letztlich auskosten. Du möchtest dein Leiden loswerden, du möchtest tatsächlich die Welt anders haben. Damit bist du noch nicht bereit, dich deiner selbst zu entsagen und dich ganz GOTT / DIR anheimzugeben. So beginnt früher oder später der erreichte Frieden zu wackeln …

Diese Macherphasen oder aktiven Phasen des Lernens sind nicht überflüssig und können auch nicht übersprungen werden. Der Macher, den wir auch technisch nüchtern »Selbstkonzept« nennen, steht am Anfang des Weges, denn er/sie/es ist derjenige, der den spirituellen Weg beschreitet – glaubst du. Weil du diesen Macher als Er/Sie/Es erlernt hast und ihn meinst, wenn du »ich« sagst. Die »Aktivitäten« dieser Phasen führen zur notwendigen »Läuterung« durch die Einsicht, was du wirklich willst und dass du nichts selbst beurteilen kannst. Von dir wird nicht verlangt, ohne ein Selbstkonzept zu sein. Es wird schon gar nicht verlangt, das Selbstkonzept irgendwie zu beseitigen oder loszuwerden. Und wir sagen auch nicht: »Du kannst für die U.N.E. nichts tun.« Es geht nur darum – du erinnerst dich? – das Offensichtliche nicht mehr zu verschleiern. Du kommst aus einem »Zustand« des »Leidens«, unabhängig davon, wie dieses konkret aussieht oder ob du es überhaupt als Leid empfindest. Denn das Offensichtliche nicht zu erkennen, ist Leiden. Wenn du leidest und nichts tust – weil du ja angeblich nichts tun kannst – wirst du schlicht weiter leiden.

***

In die Stille gehen

aus Teil I / Kapitel 15: Sei still und vergiss ...

Manchmal begegnet dir der Terminus »In die Stille gehen«. Das hat irgendwie den Beiklang der »Auszeit« oder des »Rückzugs«. Unsere Erfahrung zeigt, dass dies zu einem verbreiteten Phänomen führen kann: Der Rückzug in die Stille führt zu besonderen »inneren« Erlebnissen von Freude, Frieden oder Glück, zu Visionen oder sogar »Einsprachen«, die gerne »höherem Bewusstsein« zugeordnet werden oder zumindest als »Fortschritt« beurteilt werden. Der sich anschließende »Alltag«, jenseits der Besonderheit, wird schnell wieder von den gewohnten Vollpfosten und Nervkeksen bevölkert: Die Schuldlektion ist unverändert wirksam. Denn der versteckte und heftig verteidigte Glaube an die Besonderheit mag viele Formen annehmen, kollidiert aber immer mit der WIRKLICHKEIT und damit der SCHÖPFUNG. Besonderheit ist unvereinbar mit der LIEBE oder GOTT. Das gilt auch für das »In-die-Stille-Gehen« – wenn nämlich die Stille nicht auf deinen Bruder ausgedehnt wird und stattdessen in der Besonderheit verharrt.

Woran liegt das? Der Glaube an die Besonderheit ist nichts anderes als der Glaube an die Existenz des »Machers«: Du, die besondere Person mit ihren charakteristischen Merkmalen und Eigenschaften, gehst in die Stille und machst Übungen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Klingt doch vertraut, oder? Was ist daran verkehrt? Verkehrt ist daran gar nichts. Die Aktivitäten des Machers sind notwendig, haben wir gesagt. Das kann nicht verkehrt sein. Also lass dich nicht ins Bockshorn jagen. Es ist deutlich zielführender anzuerkennen, dass du an die Wirklichkeit des Machers glaubst, statt die Existenz des Machers zu verleugnen. Letzteres hieße, die Notwendigkeit vorauszusetzen, dass die WIRKLICHKEIT durch Verleugnung vor dem Nicht-Wirklichen geschützt werden muss. Durch diese Verleugnung lehnst du die Macht des Geistes ab und wendest dich damit der Machtlosigkeit und dem Opferdenken der Besonderheiten zu.

Die Verleugnung kannst du jedoch auch positiv oder »richtig« verwenden: indem du verleugnest, dass irgendeine symbolgestützte Erfahrung dich berühren kann. Du verleugnest nicht den Macher, sondern die Wirklichkeit des Machers. Du verleugnest nicht deinen Glauben, dass dein Bruder ein Körper ist, sondern stellst die Wirklichkeit des Körpers in Frage. Diese Art der Verleugnung verbirgt nichts, sondern berichtigt den Irrtum, indem sie ihn ans Licht bringt, statt ihn in der Dunkelheit zu verstecken. Es geht also nicht darum, ohne diesen Macher mit allen seinen Facetten, ohne deinen »getrennten« Bruder zu sein, sondern diese Sichtweise nicht zu wollen. Das ist alles. Füge etwas hinzu, und du bist wieder beim »Macherschrauben« – der Irrtum, die Dunkelheit wird zur vermeintlichen »Realität«.

Angewendet auf das »In-die-Stille-Gehen« wird daraus, dass du nicht der Macher, die Person bist, sondern diesen bzw. diese gemacht hast. Du gehst daher auch nicht in die Stille, sondern du bist die Stille. Ursache und Wirkung sind damit wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Dann gibt es auch kein Ziel zu erreichen, denn die Reise ohne Entfernung endet bei dem Ziel, das du nie verlassen hast. Bildlich ausgedrückt: Willst du »in die Stille gehen«, dann steh’ auf und gehe ein bis zwei Schritte auf dich zu. In welche Richtung führte das noch mal …?