Leseprobe »Wohin mit der Angst, Bruder?« (Teil II)

aus: Teil II / Kapitel 2, Füreiander heilsam sein: Der Ausweg aus der Angst

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Die Orientierung an der Angst und der Schuld ist die mächtigste Bastion Egons (ich erlaube mir hier wieder, »das Ego« – das unser Getrenntheitsglaube als scheinbar alternativlose Autorität und Führung unseres Geistes hervorgebracht hat – als »Egon« zu bezeichnen, dann haben wir auch mehr Spaß daran, wenn wir ihn vor die Tür setzen, sorry, mein lieber Egon!).

Um unsere Wahrnehmung, die erst einmal – »von Haus aus« sozusagen – von Egons Ghostwriter-Direktiven und seinem scheinheiligen Wertekatalog bestimmt ist, mehr und mehr der Alternative einer heilenden Sicht auszusetzen, möchte ich gerne mit dir ein wenig hin- und herwandern zwischen drei Positionen: Ausgangssituation ist für uns alle eine Wahrnehmung, die sich auf Deutungen der Angst beruft, die in der Welt des fleißigen Hausmeisters unserer getrennten Identitäten »selbstverständlich wahr« sind. Von hier aus können wir unsere Position wechseln zu einem Infragestellen dieser »mitgebrachten« Deutungen aus einer zu Egon distanzierten Beobachtungshaltung heraus, die ein »Einssein im Geist« schon für denkbar hält. Und jetzt, mitten im Spannungsfeld dieses scheinbaren Konflikts sich widersprechender Sichtweisen, kann uns der Wechsel zu einer fundamental anderen, konfliktfreien Perspektive gelingen, deren einzige Deutung der Angst die ist, dass sie vergangen ist.
Nehmen wir uns beide vor, lieber Leser, eine solche »dritte« Perspektive zumindest für möglich zu halten, dann wird der »letzte Blick« auf die Angst eine Erfahrung der Liebe sein.
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Gleichwohl erfahren wir Angst immer wieder, in uns oder in anderen, ihre prinzipielle Unheilbarkeit ist der ewig scheinende Triumph Egons, und er kann diese hohe Karte seines Lebensspiels in jedem Aspekt des Lebens ausspielen und tut dies auch, wer wollte das bezweifeln? Dennoch: Egon ist voll und ganz von meinem Glauben an ihn abhängig, ohne den er nicht existiert. Er ist nicht in der Wahrheit wie du und ich, er ist nicht in der Liebe, die immer bereit ist, uns als die zu spiegeln, die wir wirklich sind. Egon ist der dunkle Punkt einer wahnsinnigen Behauptung, es könne einen solchen Punkt außerhalb der ewigen Liebe geben. Nichts weiter. Wahr bleibt: Als Alternative zu diesem blinden Fleck der Hoffnungslosigkeit und des Todesurteils gibt es einen schattenlos hellen Orientierungspunkt außerhalb unseres Irrtums. Die Liebe kennt keine Dunkelheit. Und es ist nur ein kleiner, leicht zu korrigierender Irrtum unseres Denkens, zu glauben, dies bedeute, sie kenne uns nicht. Das bleibt wahr, wie hartnäckig wiederkehrend und wie scheinbar unendlich verwandelbar in ihren Formen die Angst auch sein mag. Sie ist in jedem Moment nicht existent, den ich der Ewigkeit hingebe, und dann ist sie nicht nur jetzt abwesend und nur für uns nicht erlebbar, sondern sie ist nie und für niemanden je gewesen, sie ist als Irrtum erkannt. Angst kann im Wortsinn »durchschaut« werden als die oszillierende Matrix eines Trugbilds: des Bildes, das wir uns von unserer Körper-Geist-Identität in einer dinglichen Welt selbst gemacht haben.

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Angst ist erfinderisch: die Phobien

aus: Teil II / Kapitel 2, Füreiander heilsam sein: Der Ausweg aus der Angst

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Zweifellos störend sind all die Formen der Angst, die uns ungebeten und ohne erkennbaren Grund heimsuchen. Es gibt beispielsweise erstaunlich viele Menschen mit Flugangst. Heute redet man erfreulicherweise schon ein wenig offener darüber als in früheren Zeiten – deshalb ist die Häufigkeit auch bekannter. Andere haben Angst vor Fahrstühlen oder anderen engen Räumen, Spinnen, Hunden oder Schlangen jeder Größe und Ungefährlichkeit, vor zu vielen Menschen an einem Ort oder umgekehrt vor leeren Plätzen oder schlicht vorm Alleinsein, davor, öffentlich auftreten zu müssen, vor körperlichen Makeln, die unter Umständen nur für sie selbst erkennbar sind … bei Licht betrachtet kann Mensch wohl vor allem und jedem eine spezielle Angst entwickeln, die für Dritte nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist. Wir sprechen hier von Ängsten, die als sehr belastend erlebt werden und mit dem Verweis auf die »Realität« – und das heißt in diesem Fall: auf den von anderen als »banal« eingestuften Auslöser nicht zu besänftigen sind. Einfacher Regen kann da zur Panik führen, der Anblick von Zügen, das Betreten eines Friedhofs, einer Brücke, aber auch einfach nur Wasser oder ein Apfel oder ein Kopf Salat, die Liste kannst du aus eigener Phantasie weiterführen bis zur Büroklammer und wenn wir schon im Büro sind: Die Angst vor der Arbeit gibt es tatsächlich auch als echte Phobie und nicht nur als normale Abneigung gegen den lästigen Gelderwerb! Die Hypochondrie müsste man noch nennen, die übersteigerte Angst vor Krankheiten. Da wird dann jede kleinste Störung im Wohlbefinden oder nur die Möglichkeit einer solchen Störung zum Angstauslöser, was das Leben wahrlich zur Qual machen kann, nicht nur für den Betroffenen. Apropos Fachausdrücke! Die Phobien sind eine wunderbare Bühne für diejenigen, die sich für die tausenden von Varianten dieser Gruppe der Ängste Fachausdrücke ausdenken, welche sie aus dem Lateinischen und Griechischen herleiten, um sich so an der Verwandlungskunst unserer und damit auch ihrer eigenen Angst fleißig und gelehrig zu beteiligen und einen sauberen Schnitt hinzukriegen zwischen dem vermeintlich angstfreien Gebildeten (also sich selbst!) und der Angst der anderen – man sieht, nicht nur die Ängste, sondern auch die mondsüchtig angstabweisenden Versuche ihrer Überwindung sind äußerst erfindungsreich! Die Angst vor dem unglückverheißenden »Freitag, dem dreizehnten« heißt da zum Beispiel: »Paraskavedekatriaphobie«! Man ahnt an dieser Stelle: Lachen hilft bei Ängsten entschieden besser als Bildung!

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Der Athem des Lebens

aus: Teil II / Kapitel 3: Im Antlitz der Angstlosigkeit – Herr Q. stirbt

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Du atmest nicht mehr. Aber dadurch ändert sich offensichtlich gar nichts. Wir schauen uns immer noch an, nicht mit Augen, sondern in einer fraglosen Nähe, in einem Raum hinter unseren Gesichtern, wo Leben ruhig atmet und pulst und ohne Angst einfach ist. Du bist da. Für immer. In diesem Moment weiß ich es. Ich bin mit dir da. Wir sind mit dir da. Das ist nichts, worüber ich entscheiden kann. Das ist unverhandelbar. Vielleicht erlebe ich zum ersten Mal, was eine »Tatsache« ist.
Dennoch sehe ich dein Gesicht, es ruht, es lauscht irgendwie, als wollest du nichts überhören, was dir in diesem Raum gesagt wird und nichts übersehen, was sich dir zeigt. Aufmerksamkeit. Alle drei sind wir in dieser Ruhe und lauschen und warten.
Irgendwann steht A. auf und ich gehe mit ihr. Wir verlassen das Zimmer, ein paar Anrufe, einmal übers Gesicht waschen, ein Glas Wasser.
Als wir zurückkommen, blicken wir in ein ganz und gar neugieriges Gesicht, das zweifellos alles gesehen hat, was wir da in den anderen Räumen getan haben.

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Ich atme nicht mehr. Was für eine Befreiung! Mein Körper gleitet von mir ab … nein, eher entlasse ich ihn selbst, ich tue das, einfach, indem ich nicht mehr Nein dazu sage. Ich tauche in etwas ganz und gar Vertrautes ein, etwas Normales, Selbstverständliches, das bin ich selbst, ich kenne das, nichts Neues … nichts Fremdes …. und so leicht, so unendlich frei, hier gibt es nur noch »Ja«. Das »Nein« bleibt mit dem Körper zurück … es ist der Körper!
Noch kann ich denken, auch in Worten, das ist interessant: Es geht viel besser als zu »Lebzeiten« – was für ein Unsinnswort! Da hatte ich ja doch arge Probleme mit den Wörtern, weil sie das Nein noch in sich hatten, mit dem ich nie so richtig zurechtgekommen bin. Jetzt kann ich denken mit und ohne Worte, ganz wie es gerade passt. Denken … ganz ohne Nein. Das hab ich euch jetzt sozusagen voraus, ihr Lieben, deswegen muss ich auch nicht mehr atmen, um zu leben, und kein Schatten des Zweifelns haftet mehr an diesem Denken, ich bin nur noch Athem, der andere Athem, der wahre! Ich bin Geist, ich, der eben noch »dement« gewesen ist. Ich bin Geist, und nur euer Nein trennt uns voneinander. Es ist nicht wahr, macht euch keine Sorgen!
Das hat man nun davon: Sie stehen auf und gehen! Ein bisschen Sorgen könntet ihr euch ruhig noch machen … war nur ein Scherz! Der Humor scheint sich lange zu halten, prima, und noch ein bisschen Neugier ist in mir, erstaunlich! Wo geht ihr hin? Was redet ihr? Was tut ihr jetzt? Ah, ja, das ist gut, Wasser für das Gesicht und die Kehle, ihr müsst noch in Bildern sprechen, mit den Dingen leben! Wasser erfrischt, nährt, belebt, was schon verdorren will, lässt wachsen. Es ist das Nein im Geist, dass den Umweg über die Bilder erzwingt, aber trinkt, Kinder, trinkt Wasser, es geht in die richtige Richtung, ihr geht auf das Ja zu! Oh wie schön, ihr redet gut über mich, das rührt mich selbst jetzt noch, wo alles fraglos gut ist und ohne Zweifel! A. weint ein wenig, und M.? … ja, der auch … aber es ist ein gutes Weinen, es ist keine Verzweiflung, ein Wissen ist darin! Wir haben diesen Schritt gemeinsam getan, ihr bleibt zurück in der Welt des Neins, aber es ist nur auf Zeit! In Wahrheit sind wir nicht getrennt, niemals! In unserem Ja sind wir Eins, ich »weiß« das jetzt. Ich bin das jetzt. Vertraut mir, Kinder!

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© 2020 Gregor Geißmann • Michael Feuser. Alle Rechte vorbehalten.

Leseprobe »Wohin mit der Angst, Bruder?« (Teil II)