Leseprobe »Und wohin mit dem Schmerz, Bruder?« (Teil II)

Eine kleine Geschichte vorweg

aus: Teil II / Kapitel 1: Phönix aus der Asche

Er war nicht zu Hause gewesen, als der Anruf gekommen war. Gut zwanzig Minuten hatte er gebraucht für die Fahrt zurück zum Eppendorfer Baum, die Straße war abgesperrt gewesen, wo hatte er jetzt eigentlich den Wagen geparkt? Das müsste er doch … gerade eben hatte er ihn abgestellt … unwichtig, total unwichtig! Es war offensichtlich möglich, zwanzig Minuten lang nichts zu denken, das war ihm neu. Er hatte die Zeit seit dem Anruf mit Nichtdenken überbrückt, und die untrüglichen Zeichen am wolkenlosen Sonntagshimmel ignoriert, die ihm die Nachricht der Katastrophe so anschaulich hatten illustrieren wollen. Jetzt erst, als er sich zu Fuß – jeden Schritt musste er fast mit Gewalt vor den anderen setzen – der bizarren Szene näherte, die sich ihm da bot, schien sein Denken wieder einzusetzen: ›Wo soll ich mich melden?‹ … Da vorne standen zwei Polizisten, da würde er hingehen. Jens vermied es, nach oben zu schauen, das würde er gleich tun, gleich, erst musste er sich melden! ›Mein Name ist Jens Gruber, mir gehört die Wohnung. Mein Name ist Jens …‹ – all die Leute, hunderte ›Schaulustige‹, das Wort kam ihm seltsam vor, und die Straße voller …. ›das sind mindestens‹ … Jens begann, die Einsatzwagen der Feuerwehr zu zählen, während er auf die Polizisten zuging, die dem Haus am nächsten standen. Unmittelbar, bevor er sie erreichte, zog es ihm jedoch förmlich den Kopf in den Nacken, wie unter Zwang schaute er nach oben und blieb wie angewurzelt stehen:

Meterhohe Flammen schlugen aus sämtlichen Fenstern seiner Wohnung im obersten Stockwerk und krallten sich in das Dach des sechsstöckigen Wohnhauses, schmolzen es ein, rissen nieder, was sein Zuhause so lange geschützt und abgeschirmt hatte. Von innen her griffen sie sich die Holzkonstruktion des ausgebauten Dachstuhls und sprengten die Ziegeln erbarmungslos auseinander, rasend in ihrer vernichtenden Hitze und gleichzeitig ganz ruhig in der Gewissheit, dass ihnen nichts entkommen werde. Durch die Fenster sah man Teile der Decke herabstürzen. Da, eines seiner Bücherregale! – er meinte es brechen zu sehen. Dichter, tiefschwarzer Rauch stieg auf und verdunkelte den Himmel, für dessen Licht es kein Durchkommen mehr zu geben schien. In diesem Anblick lag nicht einmal der Schimmer einer Hoffnung, dass hier noch irgendetwas zu retten war. Da oben verbrannte sein Leben, in diesem Inferno sah Jens sich selbst vergehen, und für einen Moment blickte er mitten in die Hölle einer bodenlosen Angst.

Dann aber fing er sich, zwang sich, den Blick abzuwenden, wieder nach unten, nach vorne zu schauen, setzte sich in Bewegung und ging wie unbeteiligt an den Polizisten vorbei, die ihn bisher nicht bemerkt zu haben schienen. Er machte einen großen Bogen um den Rettungsbus der Feuerwehr, durch dessen Fenster er einige seiner Nachbarn erkennen konnte, und floh in die Anonymität einer Gruppe von Zuschauern, die ihm sämtlich fremd waren. ›Nur fünf Minuten‹, sagte er sich, ›ich geh gleich hin, muss mich ja melden … fünf Minuten, nur fünf Minuten!‹, und er spürte, wie die Angst wich, so, als habe sie ein Eigenleben und die Macht, ihm diesen Aufschub zu gewähren.

[…]

***

Die Reise in die Freiheit vom Schmerz beginnt

aus: Teil II / Kapitel 2: Unendliche Geduld

[…]

Wenn wir eine geistige Dimension von »Schmerz« ernstlich ins Auge fassen und die Frage wahrhaftig beantworten wollen, wo wir in einer solchen Betrachtung seinen eigentlichen »Stachel« orten und natürlich vor allem, ob und wie wir ihn entfernen können, um die Wunde, die Quelle des Schmerzes, für ihre Heilung empfänglich werden zu lassen, dann ist es ratsam, als ehrliche Anfänger zu beginnen: Mitten im Wirkungsfeld der beeindruckenden Überzeugungskraft des Schmerzes, der uns oft ratlos und ohnmächtig werden lässt, wird nicht mehr von uns erbeten, als einen »Hauch von Vertrauen« aufzubringen bei dem Gedanken, dass allein unsere Geduld mit uns selbst und einem »heilsamen« Blick auf den Schmerz sofortige, erfahrbare Wirkungen mit sich bringen wird. Die »Beweise«, dass dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt sei, werden Legion sein, und wir werden oft genug der Versuchung begegnen, unsere Einwilligung in die Ausweitung unserer Geduld zu kündigen.

Dieser »Hauch von Vertrauen« ist freilich notwendig, um die Reise in die Freiheit vom Schmerz beginnen zu können, und – das ist die wirklich gute Nachricht – er ist ausreichend.

[…]

***

Heilung jenseits der »Methoden«

aus: Teil II / Kapitel 3: Schmerz, wo ist dein Stachel?

[…]

»Ein Kurs in Wundern« sagt oft genug, dass wir den Weg der Rückkehr in die Wahrheit der Liebe ohne Bestätigung hier in der konkret erlebten Welt schnell wieder verlieren würden. Und wer von uns Reisenden könnte nicht als Zeuge auftreten für die Richtigkeit dieser Aussage?

Wir wollen also nach so vielen Gedanken über die Notwendigkeit der Geduld jetzt auf den Segen der Wirkungen vertrauen. Und das heißt vor allem, einander Willkommen zu heißen als Brüder im Geist, egal, wie der Schmerz aussieht, den der Einzelne mitbringt. Es soll der Frage nicht ausgewichen werden, was nun sei mit dem weiterhin schmerzenden Knie, dem kneifenden Rücken, der brennenden Wunde, der arthrosegeplagten Hüfte, der nicht mehr auszuhaltenden Nierenkolik, dem Geburtsschmerz, dem schädelsprengenden Cluster-Kopfschmerz, den Schmerzen, die eine Krebserkrankung mit sich bringen kann, den Schmerzen der Gequälten und Gefolterten, aber auch dem Abschiedsschmerz, dem Schmerz des Verlustes eines lieben Menschen, dem Schmerz der Ohnmacht oder des bohrenden Schuldgefühls: Vielleicht ist ja für uns jetzt akzeptabel geworden, dass all diese Schmerzformen in der Tiefe zumindest auch eine auf dem Trennungsgedanken und damit auf einem Irrtum beruhende scheinbar verletzliche Identität bezeugen sollen und dass sie dabei nur an der Oberfläche »weggewünscht« und nicht wirklich in Gänze losgelassen werden können. Dennoch wird dir höchstwahrscheinlich genauso wie mir die Frage geblieben sein: Was hilft uns das alles, wenn der konkrete Schmerz immer noch da ist und uns bedroht – mal mehr, mal weniger? Wie wird aus unserem »Heilungswunsch«, der die Tiefe unseres Schmerzes nicht erreicht, endlich und endgültig ein »Heilungswille«, der den Schmerz tatsächlich und nachhaltig entlässt, um ihn nicht als integralen Bestandteil des eigenen Weltbildes behalten zu müssen?

[…]

Was haben wir bisher erreicht? Immerhin haben wir unserem Schmerz eine eindeutig alternative, wahrhaft geistige »Heilmethode« angeboten! Um das geistige Heilen ranken allerdings die Missverständnisse wie der Efeu um den Baumstamm der Vernunft, der oft genug davon die Luft ausgeht. Die wesentliche Erkenntnis beim geistigen Heilen ist die, dass es kein Vorgang ist, bei dem der Geist des einen eine Krankheit des anderen heilt, sondern bei dem ihre ewige Verbundenheit den Geist beider heilt. Die »Heilmethode«, die wir hier gemeinsam entwickeln, besteht in dem immer kontinuierlicher werdenden Nähren unserer Bereitschaft, unseren Geist für die Allgegenwart der Liebe zu öffnen. Wir geben dieser Offenheit Nahrung, indem wir sie mit unserem »Hauch des Vertrauens« zu uns einladen und dann in immer mehr alltäglichen Situationen aufrufen und mitnehmen in den nächsten Augenblick. Bis wir sie auch dort bewahren können, wo die Versuchung besonders groß ist, uns wieder in unser altes Denken zu verschließen und die Liebe abzuwehren. Schließlich begegnen wir auch Leid und Krankheit in jeder Form als offener, wundereinladender Geist und begegnen jedem Schmerz als dem einen Schmerz der vermeintlichen Trennung von eben jener Verbundenheit, deren Unauflöslichkeit unseren Geist geheilt hat. Und hier ist das Ende des Übens, die Offenheit selbst kennt keine »Methode«, sie ist die schlichte, widerstandslose Empfänglichkeit für das, was im Licht der Liebe wahr ist.

***

Den Schmerz sein lassen: Die Reise endet in der Begegnung mit dir

aus: Teil II / Kapitel 4: Der Autor des Leids entlässt den Schmerz

Also lass uns praktisch werden.

Unsere Bereitschaft, anzuerkennen, dass die Ursache unseres Schmerzes unser eigenes Festhalten an ihm ist, wird sicherlich zunächst eher zaghaft sein und in ihrer Entschlusskraft erheblichen Schwankungen unterliegen. Deswegen schlage ich vor, den praktischen Teil mit einer erneuten Erinnerung an die Notwendigkeit, unsere Geduld mit uns selbst unendlich sein zu lassen, zu beginnen. In dieser Erinnerung ist die Bitte um die sofortigen Wirkungen enthalten, die die Einladung der Hilfe des geeinten Geistes sicher mit sich bringen wird:

*
Mit der Farbe der Dunkelheit habe ich in Dein Licht geschrieben,
ohne es zu wissen.
Bis der Schmerz kam, mich zu lehren,
Wer der Autor des Leids ist.
Und mit dem Schmerz kamst Du, und schriebst mit Deinem Licht
In meine Dunkelheit:
»Sei still,
Und athme wieder mit mir
Liebe«
*

»Der Schmerz muss wieder weg!«, das steht noch im Raum und jetzt sind wir gefragt, in eben diesen Raum die Alternative einzulassen. Willigen wir gemeinsam ein, uns von der Liebe zeigen zu lassen, dass wir uns geirrt haben. Der Schmerz darf bleiben, damit wir an ihm sehen lernen. Das ist die einzige Bedeutung, die er hat. Und an unserem neuen Hinschauen wird er als ein Gedanke vergehen, des niemals wahr geworden ist.

Dem Schmerz heilsam begegnen

Wir haben ja bereits vorhin schon unseren aktuellen »Schmerzpunkt« aufgesucht und ihn gefunden, irgend eine Stelle unserer Wahrnehmung von dem, was wir sind, die uns derzeit zu peinigen scheint, ob körperlich oder seelisch. Wenn dein Schmerzpunkt körperlich ist und du ihn gut erreichen kannst, dann lege doch jetzt ruhig einmal deine Hand auf ihn – vielleicht ist es ja wirklich das Knie, oder du hast Nacken- oder Kopfschmerzen. Wenn dein Schmerzareal nicht bequem von deiner Hand erreichbar ist, oder wenn es emotionaler Natur ist, dann lass uns symbolisch »Hand« sagen für eine sanfte Berührung, mit der du jetzt deinem Schmerz begegnest.

Lassen wir diese »Hand«, diese Berührung aufmerksam sein, wie zuhörend, in gewisser Weise leer, ohne mitgebrachten Plan, wie unser Schmerz zu »handhaben« sei. Lass uns an diesem Ort der Begegnung vergessen, dass der Schmerz »weg« muss und ihm in wohlwollender Würdigung seines unbestreitbar erlebten »Daseins« unsere »Hand auflegen« – als Symbol unseres offenen, zuhörenden Geistes.

[…]

© 2020 Gregor Geißmann • Michael Feuser. Alle Rechte vorbehalten.